Seit seiner Gründung im Jahr 1885 ist der Bachchor Heidelberg eine feste Größe im Kulturleben der Stadt. Zu einem der traditionsreichsten Oratorienchöre Deutschlands wurde er durch die historisch gewachsene enge Beziehung zur Universität und zum Orchester der Stadt. Die Geschichte des Chores ist geprägt von seinen Chorleitern. Im Rückblick auf ihr Wirken wird deutlich, mit welchem Können und welcher Schaffenskraft sie den Chor zu großen Erfolgen brachten und sein inzwischen 125jähriges Bestehen ermöglichten.

Als Glücksfall sollte sich erweisen, dass 1884 Philipp Wolfrum auf Empfehlung Joseph Rheinbergers vom Leiter des theologischen Seminars Heinrich Bassermann nach Heidelberg berufen wurde. Diesem lag nicht nur eine Verbesserung der kirchenmusikalischen Ausbildung der angehenden Theologen am Herzen, es sollten auch Chöre zur Pflege der Kirchenmusik in Heidelberg aufgebaut werden. Die bevorstehende 500-Jahrfeier der Universität unterstrich den Bedarf nach einem Chor akademischer Prägung. Während in anderen Städten im 19.  Jahrhundert durch die Singbewegung und die Wiederentdeckung der großen Passionen Bachs bereits Oratorienchöre zum musikalischen Leben gehörten, fehlte dieses Element in Heidelberg noch. Wolfrum, 1854 in Oberfranken als Sohn eines Kantors geboren, vertrat schon als Neunjähriger seinen Vater an der Orgel und war Stipendiat an der königlichen Musikschule in München. Ihm eilte der Ruf eines kreativen Musikers schon voraus. In Heidelberg gelang ihm in kurzer Zeit die Gründung zweier Chöre, des akademischen Gesangvereins, der sich vornehmlich aus den Theologiestudenten rekrutierte, und eines Chorvereins „zur Pflege ernster, namentlich kirchlicher und speziell Joh. Seb. Bach’scher Vocalmusik“, in den „sangesgeübte Damen und Herren“ aufgenommen wurden. Seit dem 5. Juni 1885 probt der Bachchor donnerstags „präzis 8 Uhr“, das erste Konzert gab der Chor am 22. Februar 1886 mit der C-Dur-Messe von Beethoven und einer Bach-Kantate. Einen vielbeachteten Auftritt hatte der Bachverein beim Universitätsjubiläum 1886, Wolfrum selbst glänzte mit einer eigenen großen Komposition. Er prägte das Heidelberger Musikleben, initiierte die Gründung des Städtischen Orchesters und machte Heidelberg zu einer überregional bekannten Musikstadt. Engelbert Humperdinck, Richard Strauß, Gustav Mahler und Max Reger waren zwischen 1891 und 1913 Gastdirigenten des Bachchors. Wolfrums Verbundenheit mit dem Bachchor trug dazu bei, dass er der Stadt trotz vieler Berufungen von außerhalb treu blieb. Seine unermüdliche Arbeit endete erst, als er 1918 erkrankte und im folgenden Jahr starb.

Der 1885 in Heidelberg geborene  Hermann Meinhard Poppen war nach Umwegen über die Theologie bereits 1908 bis 1910 Assistent Philipp Wolfrums am musikwissenschaftlichen Seminar, er war Schüler Max Regers und in seinem weiteren beruflichen Werdegang immer wieder mit Heidelberg und Wolfrum verbunden. Nach dessen Tod übernahm er die Nachfolge als Universitätsmusikdirektor, und auch der Bachchor entschied sich für ihn. Durch die Verantwortlichkeit des Bachvereins für die Sinfoniekonzerte der Stadt wurde er auch Städtischer Musikdirektor. Zu seinen großen Leistungen gehört die Gründung des Evangelischen Kirchenmusikalischen Institutes 1931, der heutigen Hochschule für Kirchenmusik. Zunächst setzte er die Arbeit im Sinne Wolfrums fort, später prägte er einen eigenen, deutlich anderen Stil. Er setzte neue Schwerpunkte in der Mitgestaltung von Gottesdiensten, in einer besonderen Aufwertung des a-capella- Gesangs und in einer moderneren Interpretation der Werke Bachs. Dies wurde bei der 50-Jahr-Feier des Bachvereins 1935 von Otto Frommel gewürdigt.  Poppen musizierte Bachwerke mit kleinerem Chor und Orchester, damit „das Geflecht der Linienführung deutlicher hervortritt“. Auch unter Poppen behielt Heidelberg die Bedeutung als Musikstadt. Wilhelm Furtwängler und Albert Schweitzer waren zu Gast, unter zentraler Beteiligung des Bachvereins fanden das 19. Deutsche Bachfest und andere Tagungen und Feste von deutschlandweitem Rang statt. Poppen „entdeckte“ Dietrich Fischer-Dieskau, unvergessen ist das Deutsche Requiem von Johannes Brahms, das mit ihm aufgeführt wurde. Durch das große soziale Engagement Poppens nahm der Bachverein nicht nur im Musikleben der Stadt eine wichtige Rolle ein. Der Bachchor gab Benefizkonzerte und Konzerte in Krankenhäusern, zuletzt führte Poppen sogar in der Bruchsaler Haftanstalt eine Passion auf. Nach 37 Jahren verdienstvoller Arbeit für den Bachchor starb Poppen 1956.

Ein großes Erbe war anzutreten und mit dem 1917 in Leipzig geborenen Erich Hübner ein würdiger Nachfolger gefunden. Er hatte Poppen schon während seiner Erkrankung vertreten und war noch im gleichen Jahr vom Bachchor gewählt worden. Die Zeit unter Erich Hübnerist charakterisiert durch eine Öffnung des Repertoires zu zeitgenössischen Werken hin, viele Erstaufführungen moderner Komponisten bereichertendie Musikerfahrung der Heidelberger. Aberauch alte Meister, die bisher nicht im Repertoire des Bachchores waren, wie Claudio Monteverdi, wurden aufgeführt. Dies erforderte viel Chorarbeit mit dem damals noch sehr großen Chor, immerhin zählte er über 200 Mitglieder. Gleichzeitig gelang es Erich Hübner, viele junge Sänger für den Bachchor zu begeistern. Als Präsident des Verbandes Evangelischer Kirchenmusiker in Deutschland bewahrte er die Bedeutung Heidelbergs als Musikstadt. Anlässlich des 75jährigen Bestehens des Bachvereins im Jahr 1960 führte er die Heidelberger Bachwochen ein, das 44. Deutsche Bachfest wurde 1969 in Heidelberg ausgerichtet. Zur festlichen Gestaltung des 100jährigen Bestehens des Chores plante er die VI. Heidelberger Bachwoche, dieses Jubiläum durfte er aber nicht mehr erleben.

Das 100jährige Bestehen des Bachvereins wurde im Juni 1985 mit einem Konzertprogramm gefeiert, das mit Werken von Bach, Reger und Fortner für das traditionell übergreifende Repertoire des Bachchors stand. Die Geschichte des Vereins und das Wirken der bisher drei Künstlerischen Leiter wurden in einer Ausstellung im Heidelberger Schloss und in einer Festschrift (Hrsg. Dr. Renate Steiger) gewürdigt, die wissenschaftlich und zugleich sehr anschaulich nicht nur über den Bachchor Heidelberg informiert, sondern auch beispielhaft den Werdegang eines im 19. Jahrhundert gegründeten Oratorienchors schildert. Mit Unterstützung der Stadt richtete der Bachverein ein Archiv ein, seitdem sind die Bestände für die Musikforschung zugänglich.

Bei seinem 100. Jubiläum erlebte der Bachchor aber auch eine schmerzliche Zäsur. Die Vorbereitungen des Festes waren überschattet vom Tod Erich Hübners. In die Zeit der Suche nach einem Nachfolger fiel auch ein Wechsel in der Vereinsführung, Dr. Friedrich Wilhelm Beckmann leitete von nun an die Geschicke des Bachvereins. Im Herbst 1986 stand der neue Künstlerische Leiter fest: der Chor hatte sich für Christian Kabitz, Kirchenmusikdirektor in Würzburg und Leiter des dortigen Bachchors, entschieden. Unter Kabitz, der 1950 in Nürnberg geboren wurde, begann für den Chor eine Zeit überregionaler Konzertaktivität.  1988 übernahm er als dritten großen Konzertchor den Frankfurter Cäcilienchor. Aus der Zusammenarbeit der Chöre ergaben sich in den folgenden Jahren u.a. Projekte im Rahmen des Rheingau-Festivals, Chorreisen nach Monreale/Sizilien und in die USA sowie zwei Fernsehauftritte in der ZDF-Sendung „Achtung Klassik“. Im Sommer wirkte der Chor regelmäßig bei den stimmungsvollen „Kulinarischen Hofkonzerten“ in Wachenheim mit. Unvergessen sind auch die Chorreisen 2005 und 2006 nach Leipzig und Dresden mit Konzerten in der Thomas- und in der Frauenkirche.

Im Zentrum stand aber die Fortführung der Aufgaben des Bachchors als Konzertchor der Stadt Heidelberg. Die große Konstante der Arbeit des Bachvereins über die Jahrzehnte waren die meist vier Bachchorkonzerte mit dem Philharmonischen Orchester der Stadt Heidelberg. Seinem Ziel folgend, neben der Pflege Bachscher Vokalmusik auch Werke anderer Musikepochen zu berücksichtigen, insbesondere zeitgenössischer Komponisten, bot der Chor ein breites Repertoire in einer ausgewogenen Zusammenstellung.
Immer wieder wurden Erstaufführungen (Franck, Elgar, Berlioz, McCartney) für Heidelberg ins Programm genommen. Als Chor, der die Stadt Heidelberg repräsentiert, unternahm der Bachchor Reisen in die Partnerstädte Rehovot (1991 und 1993), Montpellier (1991), Bautzen (1991) und Simferopol (1999). Herausragend ist hier die Reise 1993 nach Israel mit Gegenbesuch der Jugendphilharmonie Israel in Deutschland.  Beide Ensembles führten in mehreren Konzerten u.a. in Tel Aviv und Heidelberg das Brahms-Requiem und Schönbergs „ Ein Überlebender aus Warschau“ auf. Im Jahr 2005 gastierte der Chor in Shanghai im Rahmen der „Deutschen Kulturwoche“ mit Händels Messias, 2009 musizierte der Bachchor Heidelberg in Rom das Requiem von Mozart. Auch bei offiziellen Anlässen der Universität, wie z.B. dem Internationalen Luther-Kongress 1997, wirkte der Bachchor mit.

Bis 2005 wurden fast alle Konzerte von Christian Kabitz geleitet, eher selten gab es Gastdirigenten wie Dietrich Fischer-Dieskau im Jahr 1998 oder Dirigenten des Philharmonischen Orchesters. Dies änderte sich seit 2005, als mit einem Kooperationsvertrag des Bachvereins mit dem Theater der Stadt Heidelberg erstmals die seit über hundert Jahren bestehende Partnerschaft der beiden Institutionen vertraglich geregelt wurde. Dabei war das hohe Interesse der Dirigenten des Philharmonischen Orchesters, regelmäßig Chorkonzerte zu leiten, deutlich geworden.
Seit dieser Zeit werden bis zu zwei Bachchorkonzerte jährlich von Dirigenten des Orchesters übernommen. Das Privileg der gesicherten Kooperation mit dem Orchester der Stadt wird vom Bachverein hoch geschätzt. Diese in dieser Stabilität in Deutschland einmalige Konstellation hat dazu beigetragen, dass der Bachchor nicht nur zu den traditionsreichsten Chören zählt, sondern auch derjenige Bachchor ist, der am längsten kontinuierlich bestehen und durchgehend Konzertaktivität anbieten konnte. Die durch den Kooperationsvertrag entstandene Zusammenarbeit mit den Dirigenten Cornelius Meister, Volker Christ, Noam Zur, Dietger Holm und Jan Schweiger ermöglichte dem Chor neue Sichtweisen auf Unterschiede in der künstlerischen Ausdeutung von Werken und in der Chorarbeit und sie stärkte auch das Bewusstsein der eigenen Qualität.

Gabriele Becker